Deutscher Bundestag
SPD

Interview zu ein Jahr Ampelkoalition | mit den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer*innen Katja Mast, Irene Mihalic (Grüne) und Johannes Vogel (FDP)

08.12.2022

Sie organisieren in der Ampel-Koalition die parlamentarischen Mehrheiten – und das in einer Zeit der Krisen. War das zurückliegende Jahr für Sie als erfahrene Parlamentarier anders als die Jahre zuvor?

Irene Mihalic: Die Zeiten sind für alle herausfordernd, auch für uns als Parlament. Um auf die Krisen zu reagieren müssen wir manche Gesetze wahnsinnig schnell vorantreiben. Wir sind in diese Koalition mit der Pandemie gestartet, die Klimakrise gab es ohnehin schon. Die russische Invasion in der Ukraine am 24. Februar hat noch einmal alles fundamental verändert. Außerdem hatten wir uns als Ampel vorgenommen, das Land zu modernisieren. Das lassen wir bei all der akuten Krisenbewältigung nicht hinten runterfallen.

Johannes Vogel: Wir muten den Kolleginnen und Kollegen – auch aus der Opposition – ein besonderes Tempo zu. Unser Anspruch muss aber sein, dass wir uns neben der akuten Krisenbewältigung auch fragen: Welche Lehren ziehen wir aus dieser Situation? Warum war unser Land für diese Krisen so schlecht vorbereitet? Mir ist deshalb wichtig, dass wir jetzt beispielsweise mehr Freihandel mit marktwirtschaftlichen Demokratien betreiben, um Abhängigkeiten zu verringern – nicht nur von russischem Gas, sondern auch vom chinesischen Markt. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir in unserem Land etwa schneller planen und schneller bauen können müssen. Was bei LNG am Tempo geht, müssen wir auf alle Infrastrukturprojekte übertragen von Bahntrassen bis Autobahnbrücken. Hier erstickt unser Land in Langsamkeit, das müssen wir jetzt ändern.

Katja Mast: Die SPD hat ja vorher mit CDU und CSU koaliert. Es ist ein ganz großer Unterschied, jetzt mit Parteien zu regieren, die einen festen Blick in die Zukunft haben und die Herausforderungen der Zeit annehmen und Lösungen suchen. Ich habe vorher oft mit Partnern verhandelt, die nicht viel verändern wollten. Deswegen ist Deutschland zum Beispiel aus der Kohle- und der Atomenergie ausgestiegen, ohne gleichzeitig einen grundlegenden Ausbau der Erneuerbaren Energien anzustoßen. Das hat sich grundlegend geändert: Uns eint der Antrieb, unser Land nach vorn zu bringen.

Das klingt alles sehr harmonisch. Die Öffentlichkeit nimmt aber immer wieder Streit zwischen den Koalitionsparteien wahr. Wie gehen Sie mit Konflikten um?

Katja Mast: Wir wissen voneinander, wo unsere Schmerzgrenzen liegen. Erst wenn man die kennt, findet man zusammen gute Kompromisse. Wir drei tauschen uns laufend per SMS aus – und noch nie ist irgendeine SMS irgendwo aufgetaucht. Dieses Vertrauen ist in Berlin eine harte Währung. Wir pflegen eine gute Kultur miteinander.

Warum rütteln dann SPD und Grüne immer wieder an der Schuldenbremse, obwohl die der FDP so wichtig ist? Und die FDP wiederum rüttelt am Atomausstieg, was die Grünen massiv ärgert.

Irene Mihalic: Klappern gehört zum Handwerk. Es bringt ja nichts, inhaltliche Unterschiede zuzukleistern. Wir haben unterschiedliche Positionen und sind von unterschiedlichen Leuten gewählt worden. Wichtig ist, dass wir am Ende zu guten Lösungen kommen. Unsere Bilanz kann sich sehen lassen. Die Verhandlungen zu Gesetzen waren hin und wieder zäh und es war nicht immer eitel Sonnenschein. Aber wir haben alle Vorhaben der Koalition schlussendlich gut durch den Bundestag gebracht. Gerade wenn man sich mal anschaut, was wir in kürzester Zeit im Bereich Klima- und Umweltschutz und beim Ausbau der Erneuerbaren aufgegleist haben, ist das doch enorm.

Johannes Vogel: Manchmal gehe ich mit meinem Beharren auf einen Punkt den Kolleginnen hier sicher auf die Nerven – und sie mir genauso. Das ist auch normal. Wenn man sich von Anfang an in allem einig wäre, wäre das das Gegenteil von Demokratie. Wir sind zum ersten Mal in einer Situation, in der drei Fraktionen auf Bundesebene zusammenarbeiten. Das ist der Beginn einer neuen Normalität, in der nicht mehr nur die üblichen angeblichen „Lager“ zusammenarbeiten. Dazu gehört dann, dass alle drei Partner sichtbar bleiben. Nicht jeder inhaltliche Disput ist ein böser Streit, solange man zu gemeinsamen Lösungen kommt.

Wir befinden uns aber in einer Krisensituation. Da dürfte es für viel Verunsicherung sorgen, wenn die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben: Die regierende Koalition ist sich nicht einig, was sie will.

Katja Mast: Wir haben im ersten Jahr zusammen mehr als 100 Gesetze durchs Parlament gebracht. Wir haben ein Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen und Entlastungspakete, die noch größer sind als in der Corona-Pandemie. Wir hatten den Mut, mit der Strom- und Gaspreisbremse systematisch in den Energiemarkt einzugreifen, um die Preise zu stabilisieren. Noch im Sommer hatten viele Leute Angst vor Massendemonstrationen und vor einem „heißen Herbst“ gewarnt. Ich stelle jetzt fest, dass dieser nicht eingetreten ist. Wir lösen das Versprechen von Olaf Scholz, you’ll never walk alone, ein. Das gibt den Menschen Sicherheit, in dieser unruhigen Zeit. Auch wenn es die Preissteigerungen und die Inflation vielen Familien wirklich schwer machen, wissen die Menschen doch, ich kann mich auf die Bundesregierung verlassen. Ich werde nicht allein gelassen. Und gerade beim Bürgergeld hat die Koalition in großer Einigkeit die weitreichendste Sozialstaatsreform der letzten Jahre beschlossen. Und ich will noch ein Beispiel nennen: In unseren Parteien gibt es viele Menschen, die einen beispiellosen Aufstieg durch Bildung und Weiterbildung vorweisen können. Deswegen spielt die Durchlässigkeit im Bildungssystem eine große Rolle. Manchmal wünsche ich mir mehr Interesse für diese weniger konfliktreichen Themen, um das nach außen zu vertreten und darzustellen.

Bei den Entlastungspaketen ist die Ampel-Koalition häufig mit der sogenannten Gießkanne am Werk: Der Staat übernimmt für alle Haushalte die Dezember-Abschlagszahlung, im Sommer konnte sich jeder ein Neun-Euro-Ticket kaufen. Warum gehen Sie nicht gezielter vor und entlasten die Menschen, die es am nötigsten haben?

Johannes Vogel: Manchmal muss man sich handwerklich entscheiden: Soll es schnell und unbürokratisch gehen? Oder ganz fein aufgegliedert, aber dafür langsamer. In der Krise war der erste Weg richtig.

Irene Mihalic: Ja, es ging darum, den Bürgerinnen und Bürgern möglichst schnell zu helfen und nicht erst den fein austarierten Plan einer Arbeitsgruppe abzuwarten. Wir haben allerdings die kleineren und mittleren Einkommen auch stärker entlastet als die hohen – unter anderem mit der Erhöhung von Mindestlohn, Bürgergel, Renten und Kindergeld, aber auch mit Einmalzahlungen für Familien, Arbeitslose und Studierende. Um im Bild zu bleiben: Ja, es wird immer von der Gießkanne gesprochen – aber das war dann nicht die Gießkanne mit dem großen Kopf, wir haben schon ganz gut dosiert.

Katja Mast: Es gab noch nie eine Bundesregierung, die so viel für Einkommen unter 2000 Euro gemacht hat: wir haben die Midijob-Grenzen erhöht, damit gerade Geringverdiener mehr Netto bei vollem sozialem Schutz haben. 12 Euro Mindestlohn sind Realität, es gibt höheres Kindergeld, mehr Bezieher von höherem Wohngeld, mehr Kinderzuschlag, höhere Steuerfreibeträge. Wir wissen: Je geringer das Einkommen ist, desto schwieriger ist der Umgang mit der steigenden Inflation. Darum entlasten wir hier gezielt.

Die Ampel-Koalition will Deutschland zu einem modernen Einwanderungsland machen – durch Anreize für die Fachkräfte-Einwanderung und ein Chancen-Aufenthaltsrecht. Allerdings gibt es bei diesem Thema traditionell Vorbehalte in der Bevölkerung. Auch die Opposition positioniert sich dagegen. Wie wollen Sie das Land da mitnehmen?

Johannes Vogel: Erstens: Wir brauchen mehr qualifizierte Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Wir müssen besser werden im globalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe – und dazu brauchen wir ein Einwanderungsrecht mit Punktesystem, das diesem Wettbewerb gerecht wird. Die Unionsparteien haben sich damit immer schwergetan. Jetzt gibt es eine riesige Chance, diesen großen Wurf zu schaffen. Zweitens sagen viele Menschen in unserem Land auch: Die Migration war in den letzten Jahren nicht gesteuert und geordnet genug. Deswegen haben wir uns in der Koalition auch eine verbesserte Rückführung von Menschen vorgenommen, die nicht in unserem Land bleiben dürfen. Grundsätzlich brauchen wir mehr reguläre und weniger irreguläre Migration – für beides streiten wir als FDP seit vielen Jahren.

Irene Mihalic: Ich finde, das ist ein ganz entscheidender Punkt: Wir müssen Migration auch als Chance für unser Land und Notwendigkeit für unsere Wirtschaft betrachten. Wir können nicht warten, bis die Union das auch verstanden hat. Wir werden ein modernes Einwanderungsrecht schaffen. Und mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht haben wir einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik eingeleitet und holen Menschen, die schon lange bei uns leben und gut integriert sind, aus der zermürbenden Kettenduldung. Wir verbinden humanitäre Flüchtlingspolitik mit den wirtschaftlichen Erfordernissen. Das ist ein Riesending, das wir uns da vorgenommen haben – und damit werden wir dem Land einen ordentlichen Modernisierungsschub geben.

Katja Mast: Niemand will ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht. Wer einen Aufenthaltstitel oder gar die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten will, muss Deutsch sprechen, seinen Lebensunterhalt bestreiten, sich an unsere Regeln halten. Die Union macht in dieser Debatte das Gleiche, was sie auch schon beim Bürgergeld gemacht hat: Sie spielt gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aus, sie spaltet bewusst.

Der Vorwurf ist allerdings auch andersherum zu hören. Ihre drei Fraktionen treiben zum Beispiel eine Wahlrechtsreform voran, um die Größe des Bundestags zu begrenzen. Wäre es nicht sinnvoller, eine solche Reform zusammen mit CDU und CSU zu machen?

Irene Mihalic: Wir sind jederzeit zu Gesprächen bereit. Als Ampel haben wir einen Vorschlag erarbeitet, der die im Gesetz festgeschriebene Sollgröße von 598 Abgeordneten einhält und den Grundsatz der Verhältniswahl konsequent umsetzt. In der Debatte mit der Union haben wir aber festgestellt, dass wir sehr unterschiedliche Positionen haben. Es ist wichtig, dass wir nicht in der letzten Kurve dieser Wahlperiode mit einem neuen Wahlrecht kommen, sondern dass wir zügig vorankommen. Wir sind mit dem Gesetzentwurf auf der Zielgeraden.

Es kommt in dieser Legislaturperiode also auf jeden Fall noch zu einer Reform, die den Bundestag auf seine gesetzlich vorgesehenen 598 Mandate begrenzt?

Katja Mast: Noch nie war eine große Wahlrechtsreform so nah wie jetzt. Das würde aber bedeuten, dass die Überhangmandate fallen oder zumindest massiv zurückgedrängt werden. Damit hat die Union ein Problem – und deshalb ist sie auch auf unser Gesprächsangebot nicht eingegangen.

Johannes Vogel: Es ist uns ernst. Wir wollen mit der Union reden, wir wollen das zusammen mit ihr auf den Weg bringen. Wenn ein Wahlergebnis dazu führt, dass der Bundestag mehr als 700 Abgeordnete umfasst, ist das für ein 80-Millionen-Volk nicht sinnvoll. Wir wollen aber nicht die Grundsätze des personalisierten Verhältniswahlrechts antasten, das unsere Demokratie seit 1949 ausmacht. Wenn die Union eine Wahlrechtsreform mit uns zusammen beschließt, freuen wir uns. Aber gar nichts zu machen und das Thema in die nächste Legislatur zu bringen – das ist keine Option.

Quelle: web.de (08.12.2022)